Grenze ist da, wo man sie sieht

Am 04.12. wurde in Prag die offizielle Vertretung des Freistaats Bayern eröffnet. Lässt sich dies als eindeutiges Zeichen für eine besonders gute Lage der bayrisch-tschechischen Beziehungen deuten? Wie sieht es denn eigentlich mit der Zusammenarbeit direkt an der bayerisch-tschechischen Grenze aus? Am 26.11. besuchte der Prager Politikwissenschaftler Lukáš Novotný München, um bei der Veranstaltung „Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Bayern und Tschechien auf dem Prüfstand“ von der politischen, wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Dimension des Zusammenlebens im Grenzgebiet zu berichten.

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Die Beziehungen seien „nie so gut wie jetzt“, wird in der letzten Zeit oft und gerne behauptet, wenn von den deutsch-tschechischen, d. h. vor allem politischen Beziehungen auf höchstem Niveau gesprochen wird. Dem hatte auch Lukáš Novotný nichts entgegenzubringen, doch beleuchtete er in seinem Vortrag noch weitere Dimensionen der deutsch-, bzw. bayerisch-tschechischen Beziehungen: neben der politischen auch die wirtschaftliche und die zwischenmenschliche Ebene. Seine Ergebnisse untermauerte er mit konkreten, in den Grenzgebieten im Rahmen universitärer Forschungsprojekte durchgeführten Umfragen.

Das Bayern-Böhmen-Ticket oder das Centrum Bavaria Bohemia seien Beispiele für ein positives Miteinander. Laut Lukáš Novotný gebe es noch zahlreiche weitere, aber auch genügend für ein gewisses „Gegeneinander“: Da ist z. B. der Borkenkäfer, beliebt im Böhmerwald, im Bayerischen Wald dagegen ungern gesehen; die Zollkontrollen, die für die eine Seite Prävention gegen Drogenschmuggel sind, für die anderen dann eher Schikane. Doch auch die Meinungen hinsichtlich der „großen“ Politik, vor allem der Europäischen Union, sind oftmals sehr unterschiedlich.

Was ist unter Grenzgebiet zu verstehen?

„Grenze ist da, wo man sie sieht, wo man sie spürt“, so erklärt Lukáš Novotný die so genannten Grenzeffekte. Daher sind auch einige thüringische Städte in der Euroregion Egrensis aktiv, obwohl sie keine direkte Grenze mit Tschechien haben. Doch die Auswirkungen der tschechischen Industriestadt Sokolov bekommen auch sie zu spüren. Auf diese Weise ist die Grenze mit ihren Casinos und Nachtclubs bis nach Pilsen wahrnehmbar. Auch historisch spielte das Grenzgebiet eine wichtige Rolle: Vor 1989 wurde durch verschiedene Namensänderungen oder andere Maßnahmen versucht, an der böhmisch-sächsischen Grenze eine gewisse Grenzlandidentität aufzubauen (es gab das Magazin oder Kino „Hraničář“, der Grenzer, den „Klub českého pohraničí“, Klub des tschechischen Grenzlandes etc.). Auch im Jahre 1945 wurde nach der Vertreibung in der Tschechoslowakei eine Kampagne unter dem Motto „Pojď s námi budovat pohraničí“ („Komm mit uns das Grenzland aufbauen“) durchgeführt. So lässt sich das Grenzland auf verschiedene Weisen definieren. Unter den Befragten auf beiden Seiten der Grenze tauchten oft Definitionen auf wie „Randgebiet entlang der Staatsgrenze“ oder aber auch „Ehemaliges Sudetenland“. Obwohl dies kein geläufiges Wort im Tschechischen sei, gewinne es derzeit, z. B. durch verschiedenste Veranstaltungen, an Popularität.

„Die Tschechen stinken auch anders als wir“ Aus den Umfragen geht hervor, dass die Menschen die verschiedenen nationalen Mentalitäten, aber auch noch vor allem aus dem Kalten Krieg stammende Stereotypen als relevante Einflussfaktoren für die grenzübergreifende Zusammenarbeit empfinden. Das bayerische und das tschechische Grenzgebiet seien zwei völlig unterschiedlich Typen von Regionen, welches vor allem dem Eisernen Vorhang und dem kommunistischen Regime zuzuschreiben ist. Auf beiden Seiten habe man nach Lukáš Novotný mit einer schwierigen demographischen Lage zu kämpfen; mit einer niedrigen Geburtenrate und einer Abwanderung ins attraktivere Landesinnere nimmt auch die potenzielle Anzahl von Menschen ab, die sich für eine Zusammenarbeit engagieren könnten. Es fehlt an lokalen Eliten, die über Sprachkompetenz, aber auch Lust und Zeit zur Kooperation verfügen. Als eine der Hauptschwierigkeiten hat Lukáš Novotný in der konkreten Zusammenarbeit aber die Gleichgültigkeit gegenüber der jeweils anderen Seite ausgemacht.

Die Rolle der Beneš-Dekrete Trotz dieser Probleme sind die Beziehungen realistisch betrachtet dennoch gut. Wurde früher von der Politik vor allem die historische Zusammenarbeit akzentuiert, wird der Schwerpunkt derzeit auf die aktuelle Lage gelegt. Wenn man Umfragen aus den Jahren 1995 und 2014 nebeneinander stellt, sieht es folgendermaßen aus: Der Aussage „Die Vertreibung war gerecht“ stimmten zum Beispiel im Jahre 1995 52 % der Befragten auf tschechischer Seite zu, 2014 nur noch 40 %. Was die Beneš-Dekrete angeht, plädierten 1995 noch 65 %, für ihre weitere Gültigkeit, 2014 waren nur noch 45 %. „An den Zahlen von 2014 kann man vor allem die steigende Anzahl an jüngeren Tschechen sehen, die gar nicht mehr davon belastet ist,“ schließt daraus Lukáš Novotný.

„Anders als meine Kollegen denke ich, dass das Thema der Beneš-Dekrete keinen wirklichen Einfluss auf die Wahl von Miloš Zeman zum tschechischen Präsidenten hatte“, sagt Lukáš Novotný. „Die Kampagne um Zeman war einfach sichtbarer, es war nicht möglich, dass ihn Karel Schwarzenberg besiegt. So soll man es auch sehen.“ Dabei solle man nicht den Eindruck bekommen, dass sich die Tschechen für das Thema zu sehr interessieren, für viele sei das heute schon fast „Mittelalter“.

Könnte etwa die Kulturhauptstadt Pilsen 2015 die grenzübergreifende Zusammenarbeit verbessern? Könnte es die Gleichgültigkeit positiv beeinflussen? „Da bin ich ziemlich skeptisch. Ich stimme mit den Kritikern teilweise überein, die in den bevorstehenden Veranstaltungen nichts mehr als nur einen elitären Kulturtransport sehen.“ Wie das Jahr 2015 nun die bayerisch-tschechische Zusammenarbeit tatsächlich beeinflussen wird, lässt aber Lukáš Novotný offen.

Lukáš Novotný ist Politikwissenschaftler und Soziologe, derzeit an der Karlsuniversität Prag tätig. Die Umfragen wurden von oder in Kooperation mit dem Zentrum für öffentliche Meinungsforschung, Universität von J.E.Purkyně in Ústí nad Labem und der Ludwig-Maximilians-Universität in München durchgeführt.

Autorin: Anna Koubová

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